Die Traurigkeit ist ein Genussmittel...

Die Traurigkeit ist ein Genussmittel in der ukrainischen Volkskultur, heisst es. Und wenn Wodka-Philosophen von Hoffnung und Untergang sprechen, wenn sie das Tauwetter sehen, das wie eine Trane uber der Stadt hangt, dann meinen sie auch die Zeit nach dem Zusammenbruch des Sowjetreiches: itdem ist die Gedanken-und Gefuhls-lage verworren, seitdem verbluhen stetig die Zukunftstraume. So gefuhlvoll kann man in Kiev oder Charkov, in Odessa oder in Galizien die Resignation benennen.

Aus Lemberg, der galizischen Haupt-stadt, kommt die Gruppe „Mertwyj Piwenj" („Der tote Hahn"), die in der Katharinenruine schon fur einen ersten Festivalhohepunkt sorgte. Kon-zipiert und moderiert vom Alt-Barden Walter Mossmann, wurde dieser Lem-berg-Abend zu einer Reise in ein frem-des Land und gleichzeitig zu einer Begegnung mit einer Kultur, die sich trotz aller Ruckschlage immer wieder zu erneuern vermag.

Die junge Gruppe besteht erst seit funf Jahren. Von traditionellen Wurzeln ausgehend, hat sie sich nicht ein-fach der okkupierenden westlichen Kultur unterworfen: vielmehr zeigt sie Mut zu einer abenteuerlichen, oft schrillen musikalischen Mixtur aus Rock und Folklore, karikiert lustvoll den Zeitgeist der neuen, Ungewissen Epoche. In Nurnberg zeigte „Der tote Hahn" Stationen seiner Entwicklung, und an der hat ganz besonders der ukrainische Dichter Jurkij Andruchowytsch teil, der den hervorragenden sechs Musikern einen Grossteil des poe-tischen Unterbaus liefert. Die lyrischen Bilder, in denen bittersu? geschwelgt wird und die hassliche Wahrheiten benennen, finden ihr Echo in ebenso widerspruchlicher, spannender Musik. Und so gehort eben nicht nur das Trau-rige zur ukrainischen Volksseele, son-dern auch eine respektlose Frohlich-keit.